Großbritannien
Unterwegs in Kent und Sussex
Hügel, Hopfen, Heritage: Englands Südosten kann mehr als Gärten
Durch Kent kommt jeder, der per Autofähre auf die britische Insel reist (am günstigsten: von Dunkerque nach Dover in knapp 2 Stunden). Dover ist der perfekte Ausgangspunkt zur Erkundung von „Südostengland“ , das sich genau genommen über neun Grafschaften erstreckt.
Sanfte Hügel, dramatische Küsten und Marschland prägen den äußersten östlichen Zipfel der Region, sehenswerte Orte jeglichen Formats, Herrenhäuser, Schlösser und Ruinen wie Bodiam Castle und, natürlich, auch Gärten.
Richtung Sissinghurst folgen wir eine Zeitlang der wenig befahrenen, aber gut ausgeschilderten Romney Marsh & Country Rye Tour. Mein jahrzehntelang gepflegtes Vorurteil vom langweiligen Marschland muss ich revidieren: die kurvige, abwechslungsreiche Strecke führt durch pittoreske Dörfer und üppige Wälder, vorbei an den für Kent so typischen Hopfendarren (Oasts). Die markanten Gebäude mit ihren kegelförmigen Dächern und schrägen Abluftschächten sind heute oft zweckentfremdet als Bed & Breakfasts, Ferienwohnungen und -häuser.
Rye selbst ist ein mittelalterliches Vorzeigestädtchen. Der Küstenort abseits der Küste ist mit seiner Schlossruine, bedeutendem Uhrturm und kieselgepflasterten Gassen Harry-Potter-tauglich. Kaum zu glauben, dass keine einzige Filmszene hier gedreht wurde! Leider entpuppt sich auch die „Schule für Hexen und Zauberer“ bei näherem Hinsehen als Kinder- und Jugendtheater – schade eigentlich.
„Kent, mein Herr, kennt doch jeder: Äpfel, Kirschen, Hopfen und Frauen“. So spielte der junge Charles Dickens in seinen „Pickwick Papers“ auf Kents Beinamen „Garten von England“ an, den die Grafschaft ihrer erfolgreichen Kultivierung von Obst und Hopfen (zur Biererzeugung) verdankte. Heute steht der Begriff eher als Synonym für die zahlreichen Gärten und Parks der Region. Allein 26 verwaltet der National Trust – man kümmert sich um sein historisches und landschaftliches Erbe (Heritage). Wir sind nicht die einzigen, die wissen, dass Gartenbesuche im Frühjahr (die meisten Gärten öffnen von April bis Oktober) extra-attraktiv sind, besonders an Wochenenden: an einem Samstag sehen wir von Nyman’s nur den überfüllten Parkplatz. Never mind, es gibt ja genügend andere. Great Dixter zum Beispiel.
Für die Besichtigung von Haus und Garten wird ein Kombiticket von 12,65 GBP angeboten. Der Garten allein kostet kaum weniger und lohnt sich deshalb eher für einen ausgedehnten Sommerbesuch mit Picknick … Sissinghurst, das wegen einer langen Regenperiode im April noch teilweise unzugänglich ist, verschieben wir aufs nächste Mal. Stattdessen bummeln wir durch das geschäftige Cranbrook mit seiner „Kathedrale des Weald“ …
Und was die Frauen betrifft: wie kein anderer Garten ist Sissinghurst verbunden mit der Biographie seiner Schöpferin, der Schriftstellerin Vita Sackville-West. Sie kaufte in den 1930er Jahren das heruntergekommene Anwesen aus dem 16. Jahrhundert und machte seinen Garten zu einem Kleinod europäischer Gartenkunst. Sackville-Wests große Liebe war Virginia Woolf, die Schriftstellerin der europäischen Avantgarde und Ikone der Frauenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Ein Ort ihres Schaffens lässt sich in Sussex besichtigen:
Östlich von Brighton liegt Rodmell, ein pittoreskes Nest mit Kultstatus. Verlaufen kann man sich nicht, vom Parkplatz aus sind es nur ein paar Schritte zum Monk’s House.
Das „einfache Cottage“ war für Virginia Woolf und ihren Mann Leonard, Londoner Verleger und Schriftsteller, der ideale Ort des Rückzugs und der intellektuellen Begegnung. Beide waren Mitglieder der avantgardistischen Bloomsbury-Gruppe, deren Geschichte sich auch das wenige Kilometer entfernten Charleston Farmhouse widmet. Der Garten von Monk’s House, über den Caroline Zoob lesenswert geschrieben hat („Der Garten der Virginia Woolf“), ist ein zusätzliches Event. Im „Reading Room“, dem Gartenhaus, in dem Woolf mit Blick auf die South Downs ihre Texte verfasste, hören wir (kostenfrei!) eine Lesung aus „Orlando“ – großartig!
Von Rodmell nach Brighton ist es nur ein Katzensprung, von London aus braucht der Zug eine knappe Stunde. Für asphaltmüde Hauptstadttouristen im Sommer die perfekte Stippvisite mit Badetasche und Groove. Längst hat sich herumgesprochen, dass sich das Seebad der Londoner zur Szenemetropole entwickelt hat. In der North Laine kann man nicht nur entspannt shoppen, sondern auch auf eines der skurrilsten „Örtchen“ im Königreich gehen (Inside Out Café). Erst im Winter, wenn „Swinging Brighton“ zur Ruhe kommt, leert sich der Strand, und auf den Wiesen sitzen dann nur noch wenige Studenten in der Sonne.
Das milde Inselklima lässt Palmen wachsen, so dass der Royal Pavilion mit seinem abenteuerlichen Stilmix wie aus einer anderen Welt erscheint.
Unter König Georg IV wurde er vor gut zweihundert Jahren mit einem 100-Gänge-Menü für Großfürst Nikolaus von Russland zum Schauplatz des wohl außergewöhnlichsten royalen Festmahls der britischen Geschichte.
Von Brighton aus fahren wir weiter Richtung Westen, nach Chichester und Arundel. Aus Chichester nehmen wir vor allem das steinerne Bildnis Graf Richard Fitzalans mit, wie er sanft die Hand seiner Gattin Eleanor von Lancaster hält, die neben ihm in der Kathedrale bestattet ist.
Offenbar berührte das „Grab von Arundel“ auch den englischen Dichter Philip Larkin, der es zum Thema seiner Lyrik machte („An Arundel Tomb“, 1956). Besser gefällt uns Chichester Harbour, das nicht ist, wonach es klingt, sondern eine überaus reizvolle flache Küstenlandschaft. Mitten darin: Bosham, auch wieder so ein Dorf mit der Intimität einer englischen Krimiserie.
Gegen Abend erst erreichen wir Arundel, und weil die meisten Geschäfte dort schon geschlossen haben, drücken wir uns nur die Nasen platt an Läden wie „The Walking Stick“. Wirklich: ein Spezialist für Gehstöcke.
Durch das sanfte Weald führt der Weg zurück an die nördliche Küste von Kent, wo ländliche Idylle auf Industrie stößt. Queenborough auf der Isle of Sheppey, mit seinem kleinen Hafen an der Themsemündung, dürfte kaum ein Thema für Reiseführer sein, doch trifft man hier auf beste Möglichkeiten, fangfrischen British Fish zu kaufen.
Ein Wort über die Küche: Wer heute noch die Nase rümpft, wenn von „Englischer Küche“ die Rede ist, outet sich als Ewiggestriger, zumindest kulinarisch. Unbedingt Fisch essen – egal, in welcher Form! Frischer kriegt man ihn nirgendwo. In so genannten Gastropubs steht gute Küche im Vordergrund, was viele traditionelle Pubs verdrängt hat. Wer bleiben will, muss sich anpassen.
Ein Must, of course: Canterbury! Kulturelle Mitte Kents und eine Kathedrale, die mehr ist als eine Kirche, sie gilt als das in Stein gehauene England. Seit dem 7. Jahrhundert beeinflusst Canterbury die englische Geschichte (Magna Charta) und Literatur (Canterbury Tales). Egal, wie oft man es besucht, es gibt immer wieder Neues zu entdecken, die Festungsstadt ist stolz auf ihr mittelalterliches Erbe. Beim nächsten Mal würden wir einem dieser neuen City Walks folgen, die man inzwischen auch online findet und vor allem: Fotos machen …
Denn, DASS wir wiederkommen, steht außer Frage.
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